Hyperion Romantic Piano Concerto Serie
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Von den unzähligen klavierkonzerten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts komponiert wurden, sind bis auf eine Handvoll alle vergessen. Die
bekannten werden mit einer Regelmäßigkeit gespielt, die an Eintönigkeit grenzt—Tschaikowskis allgegenwärtige Nr. 1, das Konzert von Grieg, Saint-Saëns’ 2. Konzert (in g-Moll),
die beiden von Brahms, mehr wird eigentlich kaum geboten. Pianisten, Konzertveranstalter und Plattenfirmen gehen auf Nummer Sicher und entscheiden sich für das Bekannte. Sogar
ein Meisterwerk kann zum unwillkommenen Gast werden, wenn es wieder einmal von einem mittelmäßigen Interpreten eine wenig bemerkenswerte Darbietung erfährt, wie es heutzutage
so oft geschieht.
Wie erfrischend ist es da, zwei vergessene Klavierkonzerte des späten 19. Jahrhunderts entstaubt und zur allgemeinen Begutachtung aufpoliert zu sehen. Erfrischend und lohnend, denn beide gehören zu jener Sorte von Werken, die Verwunderung aufkommen läßt, daß wir gezwungen sind, uns in Bezug auf Klavierkonzerte mit einer solch eingeschränkten Kost zu bescheiden. Wie kommt es, daß derart ansprechende, wohlkonstruierte, phantasievolle Werke mit gehobener Stimmung und üppigen Melodien aus dem Repertoire verschwinden konnten? Warum wird keines von beiden so häufig gespielt wie, sagen wir, das Grieg-Konzert? Oder gar statt seiner? Was haben sie an sich, das ihr Vordringen in die Klassik-Hitparaden verhindert? Wer sie sich unvoreingenommen anhört, wird es schwer haben, diese Fragen zu beantworten. Je länger man darüber nachdenkt, desto weniger stichhaltige, nachprüfbare Gründe fallen einem dafür ein, daß das heutige Publikum so selten Gelegenheit erhält, sich an Werken wie diesen zwei entzückenden, eingängigen Stücken zu erfreuen. Es wird höchste Zeit, daß diejenigen, die Klaviermusik fördern und spielen, in ihrer Programmgestaltung etwas abenteuerlustiger und phantasievoller werden, ehe dieser spezielle Bereich des Repertoires an Abgedroschenheit und Verdummung eingeht. „Neben Chopin versteht es Moritz Moszkowski am besten, für das Klavier zu komponieren“, schrieb Paderewski, „und seine Kompositionen erfassen die gesamte Bandbreite der Klaviertechnik.“ Diese beiden Pianisten und Komponisten hatten mehr gemeinsam als nur ihre Kunst. Sie waren Polen (auch wenn Moszkowski in Breslau, der damaligen schlesischen Hauptstadt, geboren wurde). Und sie waren geistreiche, gebildete Männer. Moszkowskis berühmtestes Bonmot hat ihn unsterblich gemacht—eine schlagfertige Erwiderung auf Hans von Bülows wichtigtuerische Erklärung „Bach, Beethoven, Brahms: Tous les autres sont des crétins“ („Alle anderen sind Idioten“), auf die Moszkowski mit den Worten reagierte: „Mendelssohn, Meyerbeer und ihr ergebener Diener Moritz Moszkowski: Tous les autres sont des chrétiens!“ („Alle anderen sind Christen!“). Übrigens beinhaltet Paderewskis bekanntester, wenn auch möglicherweise apokrypher Ausspruch ebenfalls ein Wortspiel. Als er von einer betuchten amerikanischen Gastgeberin mit einem berühmten Polospieler verwechselt wurde, soll er geantwortet haben: „No, he is a rich soul who plays polo—I am a poor Pole who plays solo“ („Er ist eine gar nicht arme Seele, die Polo spielt—ich dagegen bin ein armer Pole, der solo spielt“). Moszkowski war Paderewski auch insofern behilflich, als er dafür sorgte, daß ein Teil der Werke des jüngeren Mannes veröffentlicht wurde. Da jedoch enden die Ähnlichkeiten. Was ihr Leben und ihre Karriere angeht, entsprach Moszkowskis Anfang Paderewskis Ende; und Paderewskis Anfang entsprach Moszkowskis Ende. 1854 als Sohn einer begüterten Familie geboren, begann Moritz Moszkowski frühzeitig, in Dresden Musikunterricht zu nehmen. Er setzte seine Studien am Sternschen Konservatorium in Berlin fort und wechselte dann zu Theodor Kullak, einem Schüler von Czerny, an die Neue Akademie der Tonkunst über. (Zu seinen Kommilitonen zählten dort die Brüder Philipp und Xaver Scharwenka, die zeitlebens mit ihm befreundet blieben.) Er absolvierte mit 19 Jahren in Berlin sein Debüt als Konzertpianist und gab in den nächsten 24 Jahren in ganz Europa Konzerte, lehrte an Kullaks Akademie, dirigierte und komponierte. Als er sich mit 43 Jahren in Paris niederließ war er ein berühmter, allgemein respektierter Künstler. Obendrein war er wohlhabend, denn er hatte zu Beginn seiner Karriere zwei Musikstücke geschrieben, die zu den populärsten Klavierkompositionen des letzten Jahrhunderts gehörten. In jeder aufklappbaren Klavierbank weit und breit war ein Exemplar seiner Serenade Op. 15 Nr. 1 und der spanischen Tänze Op. 12 für Klavier zu vier Händen zu finden. Er und seine Frau (die Schwester von Cécile Chaminade) waren ein beliebtes Paar mit ausgezeichneten Verbindungen, und großzügig, wenn es darum ging, anderen Musikern zu helfen. Moszkowski fühlte sich, ebenso wie Grieg und Chopin, am ehesten mit Klavierkompositionen heimisch, obwohl er zumindest in London einigen Erfolg als Komponist großangelegter sinfonischer Werke erlangte—mit Jeanne d’Arc zum Beispiel (das höchstwahrscheinlich Richard Strauss’ Tod und Verklärung beeinflußt hat); dazu kamen drei Orchestersuiten, Bühnenmusik zu Don Juan und Faust, eine Oper mit dem Titel Boabdil (1892) und ein Ballett, Laurin (1896). Außerdem liegt sein herrliches romantisches Violinkonzert Op. 30 vor—ein Bravourstück, das seltsamerweise nie einen Fürsprecher gefunden hat. Doch von allen melodiösen und eleganten Werken Moritz Moszkowskis ist es sein Klavierkonzert in E-Dur Op. 59, das sich am meisten zur Neubelebung anbietet. Es ist kein kurzes Werk, und es ist kein leichtes Werk für den Solisten, doch sein dankbarer Klavierpart, seine einprägsamen Themen und sein sonniger Optimismus machen die derzeitige Vernachlässigung ganz und gar unverständlich. Niemand könnte vorgeben, es handle sich um tiefschürfende Musik. Aber immerhin regt es, wie ein Autor schreibt, „wenn schon nicht den Intellekt, so doch den Pulsschlag“ an. Anstelle der üblichen Kost bei einem bedeutenden Musikfestival gespielt, würde es stürmischen Beifall auslösen; im Fernsehen ausgestrahlt, würde es sich erneut als eines der populärsten Konzerte im Repertoire durchsetzen—nachdem es diesen Rang vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere in Deutschland und Großbritannien viele Jahre lang innegehabt hatte (der Komponist trat persönlich als Solist der britischen Erstaufführung auf, die im Rahmen eines Philharmoniekonzerts am 12. Mai 1898 stattfand). Das Konzert ist „Monsieur Josef Casimir Hofmann“ gewidmet (eine außergewöhnliche Huldigung für einen 22jährigen), der als Jugendlicher kurze Zeit bei Moszkowski studiert hatte. Es zählt zu den wenigen, die in der Tonart E-Dur stehen. (Davon abgesehen fallen einem nur Rubinsteins Nr. 1, Ljapunows Nr. 2, Tschaikowskis Nr. 3 und Marx' „Romantisches Konzert“ ein.) Darüber hinaus war es das wohl umfangreichste Werk, an dem sich Moszkowski versucht hat. Zehn Jahre nach seiner Komposition lebte er mit 54 Jahren bereits als kranker Mann in aller Abgeschiedenheit. Er hatte Frau und Tochter verloren, sein Sohn diente im französischen Heer und er selbst war, wie ein Freund es ausdrückte, „nicht mehr von Ehrgeiz beflügelt“. Er verkaufte sämtliche Urheberrechte an seiner Musik und investierte das ganze enorme Kapital in deutsche, polnische und russische Wertpapiere. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlor er alles. Er hielt noch bis 1925 durch, körperlich wie geistig zu krank, um zu arbeiten, ehe er in Paris als armer Mann an Magenkrebs starb. Die Musikwelt rümpft nach wie vor die Nase, wenn der Name Moritz Moszkowski fällt. Er läßt sich allzu leicht mit dem abfälligen Etikett eines „glatten Salonmusikkomponisten“ belegen; er hat dem musikalischen Vokabular nichts Neues hinzugefügt; er hat nichts geschrieben, das nicht andere zuvor und besser geschrieben haben. Aber sind diese Gründe gut genug, um die flüssige, freudige, überschäumende Brillanz von Moszkowskis Musik zu ignorieren und bis auf einige wenige originelle Pianisten alle davon abzubringen, sein unterhaltsames Klavierkonzert einzustudieren? Ignacy Jan Paderewskis Klavierkonzert in a-Moll Op. 17 ist chronologisch das ältere der zwei Werke, obwohl es vom jüngeren der beiden Komponisten geschrieben wurde. Paderewski, im November 1860 in Kurylówka im russisch-polnischen Gouvernement Podolien geboren, war ein noch fast ganz unbekannter 28jähriger, als er sein einziges Konzert komponierte. (Sein anderes großangelegtes Werk für Klavier und Orchester ist die annähernd fünf Jahre später entstandene Polnische Fantasie, Op. 19.) Obwohl er im zarten Alter von 11 Jahren sein Debüt gegeben hatte, begann seine eigentliche Solokarriere als Pianist erst, als er Mitte zwanzig war, nach ausführlichem Studium bei dem großen Padagogen Theodor Leschetizky. Ein spektakuläres Konzert in Paris im März 1888 und ein weiteres in Wien im November des Jahres waren Anfangspunkte einer Laufbahn als Interpret, die dazu führen sollte, daß sein Name als Synonym für Klavier galt und zu seinen Lebzeiten nahezu legendär war. Bevor er bei Leschetizky Unterricht nahm, war sein musikalisches Schaffen von Unsicherheit geprägt, denn seine frühen Träume von einer solistischen Karriere waren eng verknüpft mit dem Wunsch, Komponist zu werden. Er besuchte zwischen 1875 und 1877 am Warschauer Konservatorium Seminare in Kompositionslehre und ging gleichzeitig mit dem polnischen Violinisten Cielewicz auf Tournee durch russische Provinzstädte. 1878 trat er in Warschau in die Klavierfakultät ein, verließ sie jedoch vier Jahre später wieder, um bei Friedrich Kiel in Berlin Komposition zu studieren. Dort lernte er Anton Rubinstein kennen, der damals in der Welt des Klaviers den Rang einnahm, den zuvor Liszt innegehabt hatte (und der bald darauf Paderewski gehören sollte). Rubinstein äußerte die Ansicht, daß Paderewski sein Kompositionstalent ernster nehmen solle, und der jüngere Mann machte sich mit typischer Sorgfalt und Zielstrebigkeit sogleich daran, den Ratschlag umzusetzen. Er nahm bei Heinrich Urban in Berlin Unterricht im Orchestrieren und reiste dann mit finanzieller Unterstützung der gefeierten polnischen Schauspielerin Modjeska ab nach Wien zum folgenreichen Studium bei Leschetizky. 1888, das Jahr von Paderewskis Pariser und Wiener Debüt, war außerdem das Jahr, in dem er das Klavierkonzert komponierte—das Jahr, in dem die zwei Triebkräfte seines kreativen Lebens endlich zusammenkamen, um im Triumph miteinander verschmolzen zu werden. Sein Gemütszustand um diese Zeit macht sich bemerkbar in jedem einzelnen Takt des Konzerts, das in überschäumender Pianistik und feuriger Emotion schwelgt. Paderewski begann mit der Komposition in seiner Wiener Wohnung, im Anschluß an das triumphale Konzert in Paris. „Ich schrieb es in ganz kurzer Zeit. Ich orchestrierte es 89 in Paris“, erinnert er sich in seinen 1939 veröffentlichten Memoiren: Als ich das Konzert vollendete, mangelte es mir noch an Erfahrung. Ich hatte noch keine Aufführung gehört—es entsprach meinen Sehnsüchten. Ich wünschte mir damals, als wahrhaft bedeutender Orchesterkomponist zu gelten. Ich brauchte das. Darum nahm ich ohne einen weiteren Gedanken meine Partitur und ging damit direkt zu Saint-Saëns. [Saint-Saëns hatte sich bei früherer Gelegenheit ihm gegenüber immer freundlich verhalten und war zu seinen Konzerten erschienen, als Paderewski das 4. Klavierkonzert des französischen Meisters spielte.] Aber ich war recht ängstlich … Ich erkannte nach reiflicher Überlegung, daß es wohl anmaßend von mir war, zu ihm zu gehen. Aber ich begab mich dennoch zu seinem Haus. Ich wollte unbedingt seine Meinung hören. Er kam persönlich an die Tür. „Oh, Paderewski, Sie sind es. Kommen Sie herein“, sagte er. „Kommen Sie herein. Was wollen Sie?“ Noch ehe er ein Wort gesprochen hatte, war mir klar, daß er in großer Eile und gereizter Stimmung war, daß er wohl wie üblich dabei war, etwas zu schreiben, und nicht gestört werden wollte. „Was kann ich für Sie tun? Was wollen Sie?“ Ich zögerte mit meiner Antwort. Ich wußte, er war verärgert. Ich war im falschen Augenblick gekommen … „Ich wollte Ihre Meinung über mein Klavierkonzert erfragen“, sagte ich völlig verschüchtert. „Ich——“ „Mein lieber Paderewski“, rief er, „ich habe keine Zeit. Ich kann mich heute nicht mit Ihnen unterhalten. Ich kann nicht.“ Er ging ungeduldig einige Schritte im Zimmer auf und ab. „Nun, da Sie schon einmal hier sind, muß ich Sie wohl empfangen. Lassen Sie mich Ihr Konzert hören. Wollen Sie es mir vorspielen?“ Er nahm die Partitur und las mit, während ich spielte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Beim Andante unterbrach er mich und sagte: „Was für ein reizendes Andante! Wollen Sie so freundlich sein, es zu wiederholen?“ Ich wiederholte es. Ich begann mich ermutigt zu fühlen. Er war interessiert. Schließlich sagte er: „Da gibt es nichts zu ändern. Sie können es spielen, wann immer Sie wollen. Es wird den Leuten gefallen. Es ist durchaus aufführungsreif. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich versichere es Ihnen.“ So nahm die Begegnung doch noch einen glücklichen Ausgang, und er entließ mich hoffnungsfroh und mit gestärktem Mut. In diesem Augenblick meines Werdegangs gab mir seine Zusicherung, das Konzert sei aufführungsreif, ein gewisses Zutrauen in mein Werk, dessen ich damals nicht ohne weiteres fähig gewesen wäre. Paderewski hätte die Premiere des Werks am liebsten selbst gespielt, doch Madame Essipoff (eine hervorragende Pianistin und zum damaligen Zeitpunkt Leschetizkys Gemahlin) sagte, „da sie schon einige Kompositionen von ihm (Paderewski) in Wien eingeführt habe, wolle sie auch dieses Konzert geben.“ Sie hatte sich bereits wochenlang damit befaßt. Paderewski entsprach eher widerstrebend ihrer Bitte, war aber dann doch „froh, es ihr zu überlassen, denn ich hatte das Konzert nicht ausreichend eingeübt für eine gelungene öffentliche Aufführung.“ Es ist dem Einfluß Leschetizkys zu verdanken, dem Paderewski das Werk gewidmet hat, daß die Uraufführung von keinem Geringeren als Hans Richter dirigiert wurde. Richter war zu jener Zeit der wahrscheinlich einflußreichste europäische Dirigent, und das Werk hatte „unmittelbaren Erfolg“. Um die Worte von Sir Thomas Beecham umzumünzen (der übrigens von Moszkowski im Orchestrieren unterrichtet wurde): Diese beiden Konzerte haben „ein Raffinement und eine Kultiviertheit, die es nie versäumt, dem Ohr angenehm aufzufallen, und bieten dem musikalischen Amateur, der manchmal das Gefühl haben könnte, daß seine Kunst sich ein wenig zu weit fortentwickelt, um von ihm noch verstanden oder genossen zu werden, lindernde Zuflucht, in deren Schutz er neuen Mut schöpfen kann“.
Jeremy Nicholas © 1991 |